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Tag 44 • Žabljak •

Wandern im Durmitor: Ein aussichtsloses Unterfangen

Veröffentlicht am 19.08.2022, 20:25 Uhr in Podgorica, Montenegro

Dass die Route durch das Triple bestehend aus Piva-Schlucht, Durmitor-Massiv und Tara-Schlucht die vielleicht schönste und spektakulärste Strecke des Balkan ist, das war mir bereits von meiner Istanbul-Tour 2013 bekannt. Und auch damals hatten wir in Žabljak, der einzigen nennenswerten Stadt am Durmitor, wo es auch im Hochsommer nicht zu heiß ist, einen Ruhetag eingelegt. Allerdings haben wir 2013 den Ruhetag auch tatsächlich als Ruhetag eingesetzt, sind den ganzen Tag im Guesthouse herumgelegen und haben den Zugang zu Supermarkt und Küchenzeile zum Schlemmen genutzt.

Was wir damals nicht so wirklich auf dem Schirm hatten: Dass das Durmitor-Massiv und der Durmitor-Nationalpark auch von sehr spannenden Wanderwegen durchzogen ist. Im Nachhinein habe ich es dann durchaus ein wenig bereut, das Durmitor-Massiv damals nicht auch zu Fuß erkundet zu haben.

Und so wollten Belinda und ich dieses Mal nicht nur das Piva-Durmitor-Tara-Triple mit dem Fahrrad wiederholen, sondern zumindest einen unserer beiden eingeplanten Ruhetage für eine Wanderung durch das Massiv nutzen – wodurch der Begriff „Ruhetag“ allerdings ad absurdum geführt wurde, wie sich herausstellen sollte.

Wir sahen uns unsere digitale Karte* im Wanderweg-Modus an; von unserem Guesthouse in Žabljak aus konnte man den Black Lake, die Ice Cave und den Bobotov Kuk ungefähr in einer mehr oder weniger geraden Linie über Wanderwege verbinden. Zurück wollten wir vom Sedlo – der Passhöhe der Straße, über die wir bereits mit dem Fahrrad gekommen waren – per Anhalter fahren. Diese Route wäre etwa 16 Kilometer lang.

Um 07:30 Uhr geht’s los; wir spekulieren darauf, so bereits am frühen Nachmittag im Guesthouse zurück zu sein, um diesen Artikel sogleich noch fertigstellen zu können.

Nach 45 Minuten haben wir bereits 3 Kilometer zurückgelegt – so kann es weitergehen, denken wir uns – und erreichen den Black Lake. Vermutlich gaben die dunklen Nadelbäume, die auf den steilen Hängen rings um den See wachsen und sich schwarz im Wasser spiegeln, dem See seinen Namen. Obwohl genauso schwarz wie der Wald drum herum, ist er aus der Luft wohl ein guter Orientierungspunkt, jedenfalls wählten ihn die Briten im Zweiten Weltkrieg als Landeort für ihre Falschirmspringer, die Titos Partisanen Unterstützung für die Schlacht an der Sutjeska zusagten (siehe Podcast-Episode 6).

3 Kilometer in 45 Minuten – so ging es mitnichten weiter. Hinter dem auf 1420 Metern Höhe gelegenen See führt der Weg steil die erwähnten bewaldeten Hänge hinauf. Alles ist nass und feucht vom nächtlichen Regen. Bei 1650 Metern treten wir in eine weiße Wand ein – wir haben die Wolkengrenze erreicht. Bei einem Aussichtspunkt auf 1720 Metern, der einem sonst wohl einen malerischen Blick zurück nach unten auf den Black Lake erlaubt, sehen wir nur die Bäume im Umkreis von zehn Metern um uns herum und dann Weiß.

Der Wald weicht auf dieser Höhe nun diesen nur bis zu zwei Metern hohen Nadelhölzern, die nicht wie Bäume wachsen, sondern eher wie Büsche wuchern. Der Weg führt immer wieder mitten durchs Geäst, sodass die feuchten Büsche ihr Wasser von allen Seiten an uns abstreifen. Manchmal werden kurzzeitig Löcher in die Wolken um uns herum gerissen und lassen erahnen, welch grandiose Aussichten hier bei besserem Wetter möglich wären.

Um zur Ice Cave auf 2200 Metern zu gelangen, müssen wir erstmals die Hände zum Klettern einsetzen. Die Höhle ragt vielleicht dreißig Meter in den Berg hinein, ist vielleicht fünf oder zehn Meter hoch und führt steil nach unten. Auf dem steilen Boden hat sich im Schutz der Höhle vor der Sonne Gletschereis gebildet und hält sich auch über den Sommer. Am unteren Ende der Höhle hat von der Höhlendecke herabtropfendes Wasser einige Stalakmiten aus Eis geformt. Entsprechend kalt ist es dort drinnen und als wir wieder heraussteigen wird der Temperaturkontrast noch vergrößert, denn tatsächlich zeigt sich kurz die Sonne und wärmt uns wieder auf!

Um 13:00 Uhr machen wir nach knapp 10 Kilometern (das mit der Rückkehr am frühen Nachmittag wird langsam schwierig) Mittagspause an einem weiteren Aussichtspunkt und dieses Mal sieht man tatsächlich hinunter in die steinigen, baumlosen, nur von Wanderwegen durchzogenen Täler und die umliegenden 2200 Meter, 2300 Meter hohen felsigen Gipfel.

Als wir unseren Weg fortsetzen und um eine Ecke biegen, sehen wir ihn: Majestätisch erhebt sich der Bobotov Kuk mit seinen immerhin 2523 Metern Höhe von dem blauen Himmel ab. Fragt man die Montenegriner ist es der höchste Berg des Landes. Fragt man die Geologen ist das zwar Unsinn, aber die laut den Geologen höchsten Berge liegen eben auf der Grenze zu Albanien und man ist offenbar nicht bereit, seinen höchsten Berg mit einem anderen Land zu teilen. Außerdem sei der Bobotov Kuk viel schöner als die halb-albanische Konkurrenz. Unumstritten ist, dass der Bobotov Kuk der höchste Berg des Durmitor-Massivs ist. Auf einem Wanderweg der schwierigsten, schwarzen Kategorie kann man ihn besteigen und natürlich ist genau das auch unser Plan!

Als wir auf den Gipfel zulaufen, versteckt er sich wieder hinter Wolken und bald zieht es auch allgemein zu und ein leichter Nieselregen setzt ein. Es ist kalt, aber das Wandern über Stock und Stein und schließlich den Hang hinauf zur Sattelhöhe neben dem Bobotov Kuk ist anstrengend genug, um uns warm zu halten. Auch als der Regen wieder nachlässt macht die Nässe auf dem Geröll den Aufstieg nicht angenehmer. Es ist rutschig und die Hände, die man immer wieder mal einsetzen muss, sind bald recht schlammig. Zunehmend melden die Beine, dass sie diese Art der Belastung nicht gewohnt und damit auch nicht einverstanden sind. Allmählich – aber schneller, als mir lieb ist – geht das agile Wandern und Klettern in ein mühsames Sich-Hoch-Schleppen über. Als wir um 14:30 Uhr nach insgesamt 12 Kilometern auf der 2340 Metern hohen Sattelhöhe ankommen sind wir wieder in die Wolkendecke eingetaucht und ein kalter Wind fegt über die Kante. Langsam wird absehbar, dass eine Besteigung des Bobotov Kuk nicht mit der erhofften Aussicht belohnt werden würde. Aber vielleicht kommt man ja oberhalb der Wolken heraus? Jedenfalls sind wir jetzt schon mal hier und der Gipfel ist nur noch rund 500 Meter entfernt, wofür man laut Wegweiser allerdings eine Stunde benötigt. Wir sind uns auch nicht sicher, ob wir den Weg der schwarzen Kategorie ohne Kletterausrüstung überhaupt meistern können – zumal bei diesem Wetter – aber wir wollen auf jeden Fall sehen, wie weit wir kommen.

Also biegen wir auf der Sattelhöhe nach rechts ab und nehmen den Gipfel in Angriff. Zunächst folgt der Weg dem Grat, doch nach kurzer Zeit weicht er dem Gipfel nach links aus und führt dadurch zunächst am höchsten Punkt vorbei – und am Steilhang entlang. Der Weg ist nicht breiter als dreißig Zentimeter und direkt links davon verschwindet der fast senkrechte Boden nach wenigen Metern im endlosen Weiß der Wolken. Von der Karte wissen wir, dass er erst nach 300 Metern etwas abflacht und nach weiteren 400 Metern einen See und damit die Talsohle erreicht. Es ist wie beim Balancieren auf einem dreißig Zentimeter breiten (rutschigen, weil nassen) Holzbrett: Liegt das Brett auf dem Boden, ist es überhaupt kein Problem, aber befestigt man das Brett in 300 Meter Höhe über dem Boden wird das Ganze spannend.

Die dichten Wolken schlucken viel Sonnenlicht und es ist relativ dunkel. Den kalten Wind schlucken sie leider nicht. Immer wieder ragen von rechts Felsen in den Weg hinein und drängen einen noch näher an den Abgrund oder müssen gleich ganz überklettert werden. Ab und zu tauchen aus den Wolken vor uns plötzlich Menschen auf, teilweise mit Kletterhelmen, wünschen uns alles Gute und werden wenige Sekunden später wieder hinter uns von der weißen Wand verschluckt. Nicht wenige von ihnen machen einen erschöpften Eindruck und scheinen vor allem wieder möglichst schnell nach unten kommen zu wollen. Zwei Eltern helfen eilig ihrem vielleicht zehnjährigen, weinenden Sohn beim Abstieg, der mit der Situation offenbar überfordert war.

Schließlich biegt der Weg nach rechts ab und führt nun wieder direkt auf den Gipfel zu. Damit beginnt nun auch der eigentliche Teil des Aufstiegs: Das feuchte Erde-Kies-Gemisch des Weges weicht blankem Fels, das Wandern weicht endgültig dem Klettern. Die Hände finden meist ganz guten Halt in dem schroffen Gestein, aber die Füße stehen oftmals etwas unsicher, denn die Feuchtigkeit reduziert die Reibung hier auf dem Fels natürlich noch mehr, als ohnehin schon zuvor auf dem Weg. Wäre schon hilfreich, wenn meine Beine nicht bereits zu Beginn dieser Kletterei recht ausgelaugt und kraftlos wären, denke ich mir. Kurz erwägen wir nochmal ein Umkehren, aber entscheiden letztlich, dass trotz des etwas mulmigen Gefühls die Felsen schroff genug und das Weitergehen damit hinreichend sicher ist.

200 Meter Strecke rutschige Felsen liegen noch vor uns. Eine halbe Stunde lang tasten wir uns langsam voran. Dann stehen wir oben, auf 2523 Metern. Die Aussicht nun über die gesamten 360°: Weiß! Wir stehen auf einer kleinen felsigen Insel, vielleicht zehn auf zehn Meter groß, in einem Meer aus undurchdringlichem Weiß. Wir posieren auf verschiedenen Seiten der Insel für Fotos in die verschiedenen Richtungen, um am Ende viele praktisch identische Bilder zu erhalten: Belinda auf Stein vor Weiß, Tizian auf Stein vor Weiß.

Das mit der Stunde vom Grat bis zum Gipfel kommt einigermaßen hin. Der Abstieg macht uns noch etwas Sorgen. Nun sieht man uns wohl auch an, dass wir froh sind, wenn wir wieder unten auf dem Grat stehen. Doch das Herunterklettern funktioniert erstaunlich gut. Um 16:20 Uhr sind wir zurück auf dem Grat. Vor uns liegen jetzt noch 5 Kilometer bis zur hitchhikebaren Straße. Aus den geplanten insgesamt 16 Kilometern sind irgendwie – womöglich verläuft der Weg auf der Karte etwas gerader als in der Realität – 18 geworden. Wir müssen netto noch rund 400 Meter Höhe verlieren, was beim Wandern bekanntlich ähnlich lange dauert, wie dieselbe Höhe zu gewinnen.

Ohne das Adrenalin, das beim Klettern auf den Bobotov Kuk noch das größte Wehklagen der Beine überdeckte, spüre ich nun bei jedem einzelnen Schritt die bleierne Erschöpfung der Muskeln. Immerhin das Wetter ist nun wieder wirklich gut, nur die Spitze des Bobotov Kuk steckt noch immer in einer Wolke fest (zum Glück – nicht auszudenken, wenn nur kurz nach unserem Abstieg die Aussicht von da oben wieder tadellos wäre!). Zur Erschöpfung kommt noch ein wenig die Enttäuschung, dass wir uns keinen anderen der vielen vor klarem blauem Himmel darliegenden Gipfel für die Besteigung ausgesucht haben.

Um 18:22 Uhr – von der Straße trennt uns nur noch ein Kilometer – gabelt links ein Weg ab, der nach nur 300 Metern und 100 Höhenmetern auf der Spitze des 2200 Meter hohen Berges Uvita Greda endet. Es gibt einige höhere Berge in Sichtweite und doch ist der Uvita Greda relativ freistehend und außerdem der einzige, der für uns um diese Zeit und angesichts unserer Verfassung vielleicht noch erreichbar ist. Wir beschließen, es zu wagen. Nach einigen Minuten endet der Weg an einem steilen, felsigen Hang, an dem Stahlseile als Kletterhilfe angebracht sind. Wir ziehen uns daran hoch und erreichen schneller als wir es für möglich gehalten hätten die Bergspitze. Dieses Mal stehen wir nicht in einer Wolke und die Aussicht kann sich sehen lassen. So war das Unterfangen hier im Durmitor-Nationalpark doch nicht ganz aussichtslos.

Nur eine dreiviertel Stunde hat uns der Uvita Greda gekostet. Um 19:30 Uhr stehen wir nach 18,5 Kilometern an der Straße und müssen nun nur noch eine Mitfahrgelegenheit finden. Bei der Planung der Wanderung fürchteten wir, dass dies mit der schwierigste Teil des Ausflugs werden könnte. Doch die französischen Touristen, die sich gerade bei unserer Ankunft an der Straße abfahrbereit in ihr Auto setzen, lassen uns ohne Zögern einsteigen.

Zurück in unserem Bett in Žabljak spüre ich meine Beine wie noch niemals nach einem Radfahrtag. Einmal mehr werden mir die Vorzüge der runden, gleichmäßigen Bewegungen beim Radfahren bewusst. Belinda wirkte zwar beim Wandern bis zum Schluss noch verhältnismäßig fit, doch sollte sie vor allem in den nächsten Tagen auf dem Fahrrad noch über Muskelkater vom Wandern klagen, als meine Beine bereits wieder sehr dankbar, nicht mehr laufen zu müssen, in die Pedale traten.


* Wir nutzen die Karten von OpenAndroMaps.org mit der App Locus Map 3 Classic; hier lässt sich die Kartendarstellung u. A. fürs Radfahren oder Wandern optimieren.

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